Triumph der Provinz (2002)

Ein Libretto für acht Einzelkämpfer in einem Vorstadt-Terrarium. Auf dem Zierrasen zwischen Imbissbude, Doppelgarage, Fotoautomat und Parkbank äst ein angepflocktes Schaf und gibt der Nachbarschaft Richtung und Tempo vor.

Egal wo wir sind, wir könnten auch woanders sein.
Wir könnten aussehen wie BRIGITTE BARDOT.
Wir könnten riesig erfolgreich sein, über Nacht Popstar oder einen attraktiveren Partner haben. Alles ist möglich. Jeder kann so einzigartig sein, wie alle andern auch.
Die Sonne geht auf, die Sonne geht unter. Mal sind die Tage lang, mal kurz. Mal dehnt sich eine Nacht, mal geht die Sonne nur kurz unter, um sofort wieder aufzugehen.
An manchen Tagen erscheint uns der Sonnenaufgang wie ewig.

Ein Ensemblestück für acht Darsteller und ein Schaf.

 

FRANKAXEL
vielleicht 20 vielleicht 27, langhaariger Hippie, Ableger einer hippiemässigen Esoterik-Mutter, steht oder liegt immer irgendwo blöd rum. Manchmal gerät er in Körperhaltungen, mit denen er die Beobachtungen, die er macht, steuern kann, meist jedoch verliert er die Kontrolle, dann steuert ihm sein Körper die Wahrnehmung. Um ihn rum spielt sich alles ab wie ein komischer Film.

MICKI
ist vielleicht 18 oder 23 und auf jeden Fall auf dem Weg in die Grosstadt, wo es nicht so langweilig ist, wie da, wo sie herkommt, und wo sie ganz gross rauskommen will, wenn sie erst mal ihre erste Hitsingle HE NIKOLAUS veröffentlicht hat.

DIE BRILL
bekannt aus der Fernsehserie MENSCHEN TIERE ATTRAKTIONEN, etwas gealtert (zwischen 30 und 45) aber dennoch starmässig aussehende Tussi mit sehr vielen Taschen und Symptomen von Body Dismorphic Disorder (obwohl sie blendend aussieht, denkt sie, sie wäre grässlich entstellt). Mit ihrem neuerschienenen Kochbuch KOCHEN OHNE TIER tingelt sie durch die Provinz.

BILL und BILLE
sind verheiratet und circa Mitte dreissig. Stammen aus dem gleichen Ort, heirateten früh, bauten womöglich ein Eigenheim mit Doppelgarage und langweilen sich jetzt gemeinsam. BILLE tendenziell magersüchtig, BILL nach alter Tradition machohaft. Das Sexualleben der beiden liegt brach, BILL hat keine Lust mehr und schaut lieber fern, während BILLE sich Kinder wünscht. Eigentlich war aber der SCHORSCH ihre grosse Jugendliebe.

SCHILL
mit Vornamen GEORG, aber auch SCHORSCH genannt, alter Jugendfreund von BILL und BILLE, Junggeselle, baggert schon aus Prinzip alle Frauen an, weil sie Frauen sind. Hat Angst, dick zu werden, und ist vielleicht auch schon dick, weil er einfach ständig isst oder Weizenbiere trinkt. Dynamischer Alleskönner. In der Provinz ist er der Märchenprinz, evtl. Betreiber der Dorfdisco oder Rahmenhandlung etc., behauptet alles zu können und macht auch alles.

ROMI und JULI
die Frischverliebten äh Verblödeten, ca. 16 - 25 Jahre alt, in raschelnder Kleidung, z.B. dicken, aufgeschäumten Anoraks, durchgängig mit Schaben und Zupfen, Fummeln und Lächeln zu Gange, ab und zu kichern sie albern und glücklich auf oder zeigen sich Fotos, auf denen sie selber abgebildet sind.

Das SCHAF
an einen Pfosten gebunden, um den es unermüdlich grast. Es muss sich nicht gross entscheiden. Wenn es erschrickt, klöppelt es ein wenig zur Seite, bis der Strick spannt, dann rupft es eben da weiter. Alles, was essbar ist, wird gegessen. Ab und zu rammelt es gedankenverloren einen alten Holzstuhl, der sich auch nicht weiters drüber aufregt. Ausserdem vergisst es nach zwei Jahren sowieso alles, was es gesehen hat.

Textauszug
DER PERFEKTE MOMENT

FRANKAXEL:
Als wir HEY als wir die Möbel durch die Gegend gefahren haben HEY weisst du noch, wie wir HEY an dem Tag, an dem wir die Möbel durch die Gegend gefahren haben HEY weisst du noch, wie wir die Gegend durch die Möbel gefahren haben, an dem Tag, an dem wir die Möbel durch die Gegend gefahren haben, da ist die Sonne HEY genau so!
Pause wie plötzliche Sprech- und Erinnerungslücke, was war das nochmal Sprache, dann erneuter Schwall

Irgendwie war es genau so dunkel HEY total früh HEY irgendwie genau so HEY dunkel! Und irgendwie als wir, als wir mit diesem HEY riesigen HEY Möbelwagen diese HEY riesigen Möbel durch die Gegend gefahren haben, so wie jetzt HEY da ist die Sonne genau so wie jetzt HEY da ist die Sonne genau so wie jetzt HEY geil!
Pause

Ich glaub, es waren einfach so Möbel oder irgendwie so Möbel oder Möbel, die wir einfach so HEY durch die Gegend gefahren haben mit diesem HEY riesigen Möbel HEY Wagen und da, ich werd es nie vergessen HEY!
Pause

Voll früh HEY voll dunkel HEY und wir so halbwach HEY halbwach HEY halbwach HEY über die Autobahn und hinter uns die Möbel HEY das war echt krass, wie hinter uns HEY die Möbel! Das war voll krass HEY die Möbel HEY wie so Gestalten hinter uns! Erst mal einen Kaffee HEY erst mal einen Kaffee an der Tankstelle HEY erst mal einen Kaffee HEY erst mal einen Kaffee HEY in so einem heissen Pappbecher HEY heisser Pappbecher HEY heisser Pappbecher HEY das war wie Fliegen HEY irgendwie HEY die Strasse HEY voll leer HEY voll leer HEY voll leer HEY alles voll, voll Reif HEY und alles so geglitztert HEY ganz weiss und jeder Grashalm so irgendwie, jeder Grashalm, an dem wir irgendwie so vorbei, jeder Grashalm war irgendwie HEY das war wie Fliegen HEY die Möbel und wir, irgendwie voll geflogen HEY und die Grashalme HEY draussen voll kalt HEY voll dunkel und auf einmal geht da diese Sonne HEY und irgendwie wie gleichzeitig HEY diese Musik HEY das war echt krass HEY diese Musik HEY weisst du noch dieses HEY voll bekannte Lied HEY wie ging das noch gleich HEY nochmal HEY warte mal, warte, gleich fällt’s mir ein HEY wie war das noch warte mal warte, das war ungefähr so HEY wie: „Ich kann mir immer wieder HEY einbilden HEY oder auch vortäuschen HEY dass ich mich immer wieder neu HEY verliebe“. Immer wieder HEY aufs Neu HEY auf Englisch HEY alles neu HEY voll krass HEY Brian Ferry HEY in Englisch HEY und alles so klar HEY irgendwie HEY die ganze Luft HEY die ganzen Möbel HEY so ein feeling HEY wie irgendwie frei HEY die ganzen Möbel HEY und dann einfach Wegfahren und nie Wiederkommen!
Pause

Am Morgen HEY ging die Sonne auf HEY wie jeden Tag HEY aber das war HEY das war HEY das war HEY echt HEY das war echt HEY krass!
Pause

Geht da die Sonne voll auf HEY alles voll rosa HEY irgendwie dann alles so ganz klar so unten an den Rändern von der ganzen Erde, irgendwie alles so ganz klar, so unten an den Rändern irgendwie! Wie da die Sonne aufging und wir so diese krassen Möbel durch die krasse Gegend HEY so früh bin ich HEY selten irgendwie auf HEY wie jetzt HEY einfach perfekt HEY der perfekte Moment HEY und dann noch dieses Lied HEY wie ging das nochmal?!

Triumph der Provinz SPEZIAL

Felicia Zeller liest aus "Triumph der Provinz"
theater rampe, Stuttgart, 2003.

Frankaxel
10 GRÜNDE, MORGEN NOCH AM LEBEN ZU SEIN
Micki
EVERYBODY IS A SÄNGER ÄH AUTOR

 

 

Uraufführung 11.04.2002
Theaterhaus Jena

Regie: Claudia Bauer.
Bühne: Anna E. Gehring.
Musik: Ingo Günther

mit
Anita Vulesica (Bille), Maximilian Grill (Frankaxel), Tilla Kratochwil (Die Brill), Holger Kraft (Schill), Lutz Wessel (Bill), Stefanie Hellmann (Sophie Basse) (Micki), Natalie Hünig (Juli), Frank Benz (Romi).


Weitere Aufführungen
Junges Theater Göttingen
2003

Regie: Torsten Schilling
Bühne: Karl Farin
Kostüme: Isabel Küster
Musik: Rex Richter und die Sorgenbrecher

mit
Michael Schwyter (Frankaxel), Micki (Sonja Elena Schroeder), Schill (Thomas Kornmann), Die Brill (Agnes Giese), Bill (Haye Graf), Bille (Brit Kirstin Hennig), Romi (Daniel Mezger), Juli (Iris Würgler)


PRESSSESTIMMEN

 

"Denn da wird keine konventionelle Geschichte erzählt. Da werden Menschen und ihre Haltungen inszeniert: komisch und traurig, skurril und seicht, absurd und aktuell."
(Freies Wort, Michael Plote, 15.04.2002)

"Es geht um Kommunikationsverlust, es geht um die Selbstinszenierung der Menschen, die ein Bild von sich entwerfen und diesem Bild entsprechen wollen, um im Konkurrenzkampf bestehen zu können."
(Volker Trauth, mdr Kultur, 12.04.2002)

"Diese Figuren sind alles Glückssucher mit einer gewissen Ratlosigkeit.."
(Volker Trauth, mdr Kultur, 12.04.2002)

Deutschlandradio FAZIT, Hartmut Krug, 13.04.2002
Ein wahrer "Triumph der Provinz"
Felicia Zellers wild mäandernde Textfolge triumphiert in Claudia Bauers Regie im Theaterhaus Jena
Das erste Bild der Provinz im Theaterhaus Jena zeigt die Ruhe des Stillstands. Ein junger Mann träumt, von einer Spinne am Mikrofon festgesponnen. Ein Schaf im Hintergrund macht das, was es während der gesamten Aufführung tut: Es döst und frisst ruhig vor sich hin. Doch wenn Bewegung ins Spiel kommt, sich acht Einzelkämpfer auf grünem Rollrasen in und zwischen drei Fotofix-Passbildautomaten unentwegt neu zu erfinden suchen, dann reden alle so hektisch, als ginge es nicht nur um ein neues, sondern ums ganze Leben. Auch unser Träumer rattert schrill durch die Beschreibung eines Möbeltransports. Und sein verdrehtes Denken über die Fortbewegung fährt ihm dabei in den Körper. Mit artistischen Verbiegungen schafft der famose Maximilian Grill eine absurd-realistische Traumfigur. Jungautorin Felicia Zeller (Jahrgang 1970) ist mit einem halben Dutzend Uraufführungen in den letzten zwei Jahren zu einem Shooting-Star der deutschen Dramatik geworden. Sie ist eine Sammlerin und Monteurin von Realitätspartikeln. Im "Triumph der Provinz" stellt sie diese in filmischen Short Cuts (unter eingesprochenen Überschriften) hart nebeneinander. Ihr Auftragswerk für Jena ist ein wildes Konglomerat von Szenen und Situationen, von Mono- und Dialogen sowie von Momentaufnahmen im Prozess immer neuer Identitätsschaffung. Regisseurin Claudia Bauer hat die wild mäandernde Textfolge klug gekürzt und aus den Bewegungen und Beziehungen der Figuren kleine Geschichten destilliert. Die Uraufführungs-Inszenierung ist von schriller Bewegtheit und groteskem Witz. Sie wirkt zugleich liebevoll verspielt und unruhevoll überdreht. Sie zeigt das junge Jenaer Ensemble in aufgedrehter Spiellaune und darstellerischer Bestform. Alle sind immer zugleich auf der Bühne und in Bewegung. Die Regisseurin baut mit viel Phantasie choreographisch bewegte (Körper)Bilder: Herrlich, wie die Darsteller als Chor der Fußball-Fernsehenden mit ihren Stühlen zum Spiel herandribbeln. Provinz ist der Ort, aus dem alle flüchten wollen, indem sie sich neu erfinden. Micki (Stefanie Hellmann) will als Sängerin und Star in die Großstadt. Bille träumt sich aus erkalteter Ehe mit neuen, großen Brüsten in die Jugendleidenschaft mit Schorsch, dem Anbaggerstar des Ortes (Holger Kraft tanzt mit bauchigem Hüftschwung durch die wunderbare Schäbigkeit seiner Figur). Es reicht für Bille aber nur zu einer neuen Frisur (Anita Vulesica schafft mit energischem Witz eine zugleich berührende wie komische Gestalt). Provinz ist jedoch nicht nur der Ort, an dem man lebt. Provinz steckt in jedem. Also muss man, meint sarkastisch die Autorin, sich auch innen verändern. Flexibilisieren heißt dafür das Zauberwort. Ein abgehalfterter Fernsehstar kommt zur Lesung aus seinem Kochbuch als erotische Offenbarung für Männer herangetingelt. Lutz Wessel lässt Billes Mann Bill (unterm Basecap die Dumpfheit, an der Hand den Rasenmäher als Ordnungsprinzip) begeistert sabbern und ins Mikrofon sabbeln. Mit dieser Uraufführung hat das Theaterhaus Jena einen szenischen Knaller gezündet. Ein wahrer Triumph der Provinz mit der tollen Inszenierung des Stückes einer jungen Autorin, von der noch viel zu erwarten ist.

Kulturspiegel 4/2002
Artikel lesen ...