Einsame Menschen

"Vor allen Menschen behauptest du, ich wäre ein Tyrann."

Einsame Menschen

In der studentischen Tierschutzgruppe UN-TIER haben sie sich kennengelernt:
BÖLSCHE, radikaler Umweltaktivist, GERHART, der immer noch an seiner Doktorarbeit für angewandte Tiersoziologie schreibt und MARIE mittlerweile erfolgreiche Architektin.

Marie und Gerhart, inzwischen verheiratet, wünschen sich ein Haus auf dem Land quasi in der Stadt, in der Natur mit guter Verkehrsanbindung. Es soll Rückzugsort für die entstehende Kleinfamilie, gleichzeitig florierender Co-Working- und Co-Gardening-Space mit Raum für internationalen Austausch werden. Zunächst zieht erst mal die Schwiegermutter mit ein, eine Frau, deren Leben auch ganz anders aussehen hätte können.

Alle wollen hier alles am besten auf einmal. Land und Stadt. Einsamkeit und Menschen. Familie und Karriere. Ruhe und Abenteuer. Klimaschutz und Wohlstand. Und als die digitale Nomadin MARGARETHE einzieht, fordert der verliebte GERHART die Vereinbarkeit von Ehe und freier Liebe.

ZUR ÜBERSCHREIBUNG

An Gerhart Hauptmanns Schreibweise gefällt mir, dass er Situationen und Tonfälle sehr genau trifft, dass er sehr verspielte Dialoge schreibt, die nicht immer handlungstreibend sind, sondern sich gerne mal detailverliebt bis ins Komödiantische hinein ausbreiten.

In Hauptmanns „Einsame Menschen“ von 1890 geht es um die Enge in der Ehe: Warum kann ich nicht zwei Frauen haben, also meine Ehefrau und noch eine Freundin, oder wie es so schön in Kindlers Literaturlexikon beschrieben wird:
„…die Problematik des Mannes, der zwischen zwei Frauen stehend, mit dem Leben nicht fertig wird und deswegen den Tod als einzigen Ausweg sucht.“

Hauptmanns „Einsame Menschen“ ist ein sehr männerzentriertes Stück, die Frauen, die mitspielen, sind Anlass für die Probleme des Mannes. An diesem Focus habe ich gedreht. Jetzt ist auch der Mann Anlass für die Probleme der Frau.

Wobei ich die larmoyante Männerfigur des Ehemannes eher verstärkt habe, den anderen Charakteren gleichzeitig eigene Ansprüche und Interessen gegeben habe.

Nicht nur der Ehemann besteht darauf gleichzeitig Frau und Freundin haben zu können, auch seine Frau Marie will gleichzeitig Kind und internationale Karriere, Kleinfamilie und kollektives Wohnen, und der Umweltaktivist Bölsche will losrennen, trotz gebrochenem Fuß. Die digitale Nomadin Margarethe benötigt für ihr ungebundenes Leben auf jeden Fall immer WLAN-Anschluss.
Alle versuchen „Dinge zu vereinen, die sich eben nicht vereinen lassen“ wie es in Hauptmanns Stücktext heißt, ein Satz, den ich zum Motto meiner Überschreibung gemacht habe.

In „Einsame Menschen“ geht es um die Überzeugung des modernen Menschen, gleichzeitig in der Stadt und auf dem Land leben zu können.
Die Widersprüchlichkeit von politischen Überzeugungen und tatsächlichem Handeln, Handlungsspielraum. Die Hoffnung, dass sich etwas ändert, ohne dass sich etwas ändern muss, die Vereinbarkeit von Klimaschutz und Wohlstand.

URAUFFÜHRUNG

Berliner Ensemble, 07.12.2022


Marie: Sina Martens

Gerhart: Gerrit Jansen

Erika: Corinna Kirchhoff

Bölsche: Oliver Kraushaar

Margarethe: Nina Bruns


Regie: Bettina Bruinier


 

PRESSESTIMMEN

Es ist ein Text, der unumwunden nach Zeitgeist fragt und die Lebenswelt der nachwachsenden Hauptstadtelite widerspiegeln will - beides gelingt ihm ziemlich überzeugend.
FAZ

In Zellers Stücken lassen sich die verlogenen und hochnotpeinlichen Seiten der berühmten „Gesellschaft der Singularitäten“ besichtigen, die der Soziologe Andreas Reckwitz als kulturelle Endmoräne des Spätkapitalismus beschrieben hat. Das ist kein schöner Anblick, aber ein ziemlich komischer.
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG

Felicia Zeller ist eine Meisterin der pointierten Zuspitzungen und des hinterhältig in der Luft hängenden Ungesagten.
TAGESSPIEGEL

Corinna Kirchhoff brilliert als Mutter Erika, wenn sie in herrlichstem Singsang von ihrer Heilgymnastik („Rugel-Methode!“) schwärmt.
NACHTKRITIK

Man blickt durchaus mit Schadenfreude auf die Peinlichkeitsverrenkungen und schlecht kaschierten Lebensdesaster dieser Gestalten aus der Beletage, die ihren moralischen Dünkel problemlos mit dem kompletten Desinteresse an anderen Menschen zu verbinden wissen.
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG