ICH TASCHE (2003)

Wuppertaler Bühnen 2010; Regie: Peter Wallgram; Ausstattung: Pia Maria Mackert

Massenszene
ab 6 / für ungefähr 18 / bis 99 Personen

1. ICH TASCHE

DAS KLEINSTE GERÄT DER WELT
Gleich zu Beginn verschwindet das kleinste Gerät der Welt, weil es so klein ist. Das Mädchen im schwarzen T-Shirt mit Aufschrift FUCK THE COMMERCE kann es nicht glauben, so eine Scheisse Mann! Ja, Mann! War es der Mann, der ständig auf seine körperlichen Auswüchse zu sprechen gekommen ist, dieser komische Jeanstyp, der Angst hatte, mit seinen Fussnägeln in den Vordersitz zu wachsen? Aber auch mit dem Messer ist das Gerät nirgends zu finden, es macht nur alles kaputt.

GEWÖHNLICHE SITZPLATZDISKUSSION
Doch weder die perfekt gekleidete Frau mit der Tasche Aufschrift ACTIVE BAG, noch das Rentnerehepaar, die auf der Suche nach dem richtigen Sitzplatz in das Abteil kommen, bemerken, dass FUCK THE COMMERCE hier mit dem Messer steht, mit dem sie bereits alles kaputt gemacht hat. Statt dessen starten sie eine gewöhnliche Sitzplatzdiskussion.

EIN AUFDRINGLICHES HANDYGESPRÄCH
Ein Mann (kariertes Hemd, schöne Tasche, Bart) ist auf einmal mitten in einem aufdringlichen Handygespräch mit seiner vermutlich Geliebten, mit der er vermutlich eine Fernbeziehung führt und mit der er, so muss sich jeder mitanhören, dieses Mal keinen Sex hatte.

FORTSCHREITENDE ALLTAGSGESPRÄCHSSCHLAUFE
Das pikierte Rentnerehepaar bleibt seinerseits in einer fortschreitenden Alltagsgesprächsschlaufe hängen.

LIEBE AUF DEN ERSTEN BLICK
Eine geheimnisvolle Dame in schwarzem Umhang verliebt sich in einen wahnsinnig gutaussehenden Typ, der zufällig aus dem gleichen Provinznest stammt: Brettfurz. Das verbindet. Einmal angesprochen textet der Typ sein sich ihm still zulehnendes Gegenüber mit seiner kompletten Lebensstory zu.

SCHALE UND NEBENSCHALE
Die an einem rosa Schal strickende Frau kommt immer zu kurz, muss stundenlang in Schlangen stehen und, wenn sie mal einen Sitzplatz findet, passiert es ihr immer, dass sich neben ihr eine besonders unangenehme Person niederlässt, im Moment ist es ein beleibter junger Mann in einem Sweatshirt mit Aufschrift UNIVERSITY OF TEXAS, der völlig vertieft in einem Buch liest, wobei er ununterbrochen Schokoladenprodukte in sich hineinstopft. Anlass für die Strickende, einen langen Vortrag zu halten (Rednerpult), der durch die Schilderung von Beispielsituationen in eine grosse Furzszene ausufert.
FORTFAHREN
Als wär nichts geschehen, gleiten die Gestalten weiter: musikhörend, schlafend, lesend, vor sich hindämmernd, ins Laptop einhämmernd, die anderen beobachtend, in Gedanken versinkend.

ICH TASCHE
FUCK THE COMMERCE gleitet in eine Geschichte, in der sie alles verliert: Geld, Fahrkarte, (Gerät) und zu guter Letzt ihre Gestalt. Als Tasche findet sie sich im Gepäcknetz wieder. Selbst hier nimmt das grosse Verlieren kein Ende. Kugelschreiber und andere Sachen fallen aus ihr, auf den Mann im grauen Anzug, der mit seiner Begleitung, Herr Schmidt aus der Abteilung Zement, eine Frage erörtert, die sich nicht nur ihnen, sondern der gesamten Bevölkerung stellt.

VON SKELETTEN SURROUNDED
Immer noch textet der gutaussehende Typ das sich immer wieder verliebt vorbeugende, verständnisvolle Mädchen im schwarzen Umhang zu. Mit seiner grossspurigen Erzählung von der völlig gescheiterten Gründung einer eigenen Firma (Ich-AG), versucht er sie zu beeindrucken, doch sie wartet nur darauf, dass er mit seinem krassen Text fertig wird, damit sie ihn endlich küssen kann.

2. TRAVEL BOY

ACHTUNG, GELBER HELM!
Auf dem Bahnsteig begegnet der südliche Typ im wattierten Anorak einer Dame mit gelbem Helm in einer Gruppe, in der alle gelbe Helme tragen und ein ihm wunderlich anmutendes Spiel spielen: Sie hüpfen wie zeitlos umher und schlagen sich gegenseitig mit einem grossen Ast auf den Kopf (Helm). Das extrem ausdauernde Lachen der Helmträgerin bezaubert ihn so, dass er seinen Koffer auf dem Bahnsteig vergisst, und nur noch von ihr zu träumen vermag.

3. WILHELM CONRAD RÖNTGEN

Der Typ im Anorak kommt neben der kleinen, farbigen Frau mit den grossen Kopfhörern zu sitzen, die die ganze Zeit nur Musik gehört hat, jetzt aber aufstehen will und eine rauchen gehen. Doch der Träumende reagiert nicht auf die immer harscher werdenden Aufforderungen der kleinen Frau, sich zu erheben. In seinen Gedanken hat er die bezaubernd lachende Dame mit dem Helm bereits angesprochen und ist mit ihr fast schon auf eine Insel verschwunden, wo sie beide glücklich bis an ihr Lebensende...

BIN LADEN LEBT
Der schnaufende Rentner trägt mittlerweile seiner Frau ausgewählte Stellen aus der Zeitung vor. Best of in Schlagzeilen. Bin Laden lebt. Er bricht immer wieder in kleine Unglaublichkeitsarien aus. Auf einmal ist die Kopfhörerin überzeugt, dass neben ihr Bin Laden sitzt. Alles deutet darauf hin: Sein komisches Vorsichhinstarren, dass er keinen Koffer hat, der fette Anorak, unter dem sie den Sprengstoffgürtel vermutet, sein frisch rasiertes Gesicht. Sie schwitzt, als der Typ am Reissverschluss seines Anoraks reisst. Doch um seine Hüfte hat er nichts als einen Wurstbrotgürtel geschnallt.

NICHTRAUCHER ODER NICHTSTRICKER?
Zudem bietet er ihr jetzt noch eine Zigarette an, was die Frau mit dem rosa Schal, die sich mittlerweile nach einiger Überwindung, aber mit noch grösserer Neugier, in einem angeregten Gespräch mit der neben ihr sitzenden Ess- und Leseratte befindet, veranlasst, jetzt auch für alle Nichtraucher aufzustehen.

EIN DURCHGESCHLEIFTES TELEFONAT
Davon unbeeindruckt telefoniert jetzt die Frau mit dem Kopfhörer. Das habe sie doch schon lange. Das wisse er doch, dass da. Das Gespräch, das sie mit ihrer Fernbeziehung führt, ist die Antwort auf KAROHEMDs Fernbeziehungstelefonat zu Beginn des Stückes, als hörten wir erst jetzt, Stunden später, was die Angerufene, Stunden vorher, auf der anderen Seite des Apparates gesagt hat.

EIN MAHLENDES GERÄUSCH IM VOLLAUTOMATISCHEN ZUG
Da tritt ein mahlendes Geräusch auf. Beunruhigt will sich der Jeanstyp an sein Gegenüber wenden, doch die kleine Frau mit dem Kopfhörer telefoniert unbeirrt weiter. Ja, sie schreit einfach in ihr Handy hinein, um das mahlende Geräusch (Da ist doch was kaputt!) zu überdröhnen. Anzeichen einer Katastrophe? Radreifenbruch?

DAS LEBEN DER ANDEREN
Doch auch jetzt, als der Jeanstyp und die Frau mit dem Kopfhörer sich mit abgetrennten Körperteilen unter Trümmern eingequetscht wiederfinden, geht das Leben der anderen weiter wie normal. ACTIVE BAG unterwegs zu ihrem Vorstellungsgespräch bekommt zwar auf dem Bahnsteig einen hysterischen Anfall, weil Verspätung, da kann ihr der Jeanstyp (eigentlich unterrichtet er in der Christian-Friedrich-Technik, perfekt für Stressbewältigung) auch nicht helfen, da er sich ohne Hände in den Trümmern liegend leider nicht bewegen kann, und schliesslich auch noch stirbt, sie kann sich aber ein Taxi rufen.

MIT DEM TAXI RAUS AUS DEM STÜCK
Der Taxifahrer ist der einzige, der sich in die Szene der anderen hineinbegeben will, er will helfen, evtl. Blut spenden, wird jedoch von ACTIVE BAG in sein Taxi zurückgedrängt, welches komplett aus dem Stück herausfährt, in diesem Fall nach Hamburg.


 

Felicia Zeller hat sich nicht abschrecken lassen von langen Schalterschlangen, einem verwirrenden Preissystem und freiheitsberaubenden Zugbindungen: Sie hat sich auf eine mehrwöchige Fahrt mit der Bahn eingelassen, um im Zug ein neues Stück zu schreiben.

Herausgekommen ist eine "Massenszene", in der die Autorin Erlebnisse und Aufgeschnapptes zu einer Sprechpartitur überhöht und verdichtet hat. Der Entstehungsmoment wurde dabei zum Stückprinzip: Reisende beobachten Reisende, die Reisende beobachten.

So nimmt man teil an Sitzplatzverteilungskämpfen und Privatsphärenbehauptungen. Ausgeprägte Individuen müssen einander auf engstem Raum aushalten. Trotz aller Bemühungen um Anonymität stellt sich mitunter peinliche Nähe her. Das schafft Stress und führt zu absurden Verwicklungen. Mitreisende werden für Gepäckstücke gehalten, Sprengstoffgürtel entpuppen sich als Reiseproviant. Unaufhaltsam rast diese Reisegesellschaft auf eine Entgleisung zu ...

Sprache vollzieht sich in "fortschreitenden Alltagsgesprächsschlaufen", so die Autorin. Ihr gesellschaftlicher Befund ist ernüchternd: Wir leben in einem Land, in dem geschichtsvergessene Egoisten mit den Zumutungen des Augenblicks ringen. Manisches Mitteilungsbedürfnis trifft auf sozialen Autismus. Felicia Zellers Humor verspricht Rettung.

 


Uraufführung 05.10.2003
Theater Oberhausen

(ICH GROSSE REISETASCHE DU KOFFER)

Regie: Susanna Enk
Ausstattung: Ekarina Peter und Timo Dentler

mit
Pirkko Marie-Luise Cremer, Katharina Ortmayr, Tobials Junglas, Aljoscha Langel